Liebesroman

So seh'n wir uns nach Jahren wieder,
Was ging indeß an uns vorbei!
Als wir das erste Mahl uns fanden,
Da war noch auf und über Mai.

Da gab's ein Hangen und ein Bangen,
Da ward mit Thränen nicht gespart;
Die Zukunft schwamm, ein goldner Nachen,
Im klaren See der Gegenwart.

Da prassten wir mit Hochgefühlen,
Von Glück war unsre Brust geschwellt,
Und dennoch hatten wir noch immer
Des Glück's genug für eine Welt.

An keine Lösung denkend knüpften
Wir tausend Fäden tändelnd an,
Und wähnten jeden Tag verloren,
Der ohne Kuß und Schwur verrann.

Wir setzten über Kluft und Klippe
Mit Lächeln in verwegnem Sprung;
Wir standen schwindelnd auf dem Gipfel,
Und zagten fast vor Steigerung.

Und nun - o laß uns nicht erröthen! -
Was uns beseligt und beseelt,
Gleicht einem lieblichen Romane,
Dem ach! die letzte Seite fehlt.

Aus: Bifolien Dichtungen von Johann Gabriel Seidl
Dritte verbesserte, vermehrte und mit des Verfassers
Bildniß versehene Auflage
Wien Pfautsch & Compagnie 1843

Collection: 
1826

More from Poet

  • Im Mai 1823

    Mein Herz ist froh, mein Aug ist licht
    Und Wen'ge sind mir gleich;
    Drum ruf ich's laut, und rief ich's nicht:
    Mein Aug verrieth' es euch.
    Und daß ich sing' von meiner Lust,
    Das hat der Lenz gethan:...

  • Ich wall' im klaren Sonnenscheine:
    Mein süßes Liebchen wallt vor mir;
    Am Boden malt mit scharfen Raine
    Der Schatten sich von mir und ihr.

    Und vor zu ihren Bilde reichet
    Mein Schatten, sich verlängernd, hin:
    Sie...

  • Der Abend sinkt hernieder,
    Die Sternlein ziehn herauf;
    Und Nachtigallenlieder
    Begleiten ihren Lauf.
    Da tritt, die Welt im Busen,
    Aus engem, dumpfen Haus,
    In's Heiligthum der Musen
    Der Troubadour hinaus....

  • Wie sich der Aeuglein
    Kindlicher Himmel,
    Schlummerbelastet,
    Lässig verschließt! —
    Schließe sie einst so,
    Lockt dich die Erde:
    Drinnen ist Himmel,
    Außen ist Lust!

    Wie dir so schlafroth...

  • Wohl weilst du in der Ferne,
    Doch nimmer fern für mich,
    Kein Heil'ger denkt so gerne
    An Gott, als ich an dich.

    Vom Monde sag' ich nimmer:
    Er walte sanft und mild;
    Ich sage nur: sein Schimmer
    Sei deiner...