So seh'n wir uns nach Jahren wieder,
Was ging indeß an uns vorbei!
Als wir das erste Mahl uns fanden,
Da war noch auf und über Mai.
Da gab's ein Hangen und ein Bangen,
Da ward mit Thränen nicht gespart;
Die Zukunft schwamm, ein goldner Nachen,
Im klaren See der Gegenwart.
Da prassten wir mit Hochgefühlen,
Von Glück war unsre Brust geschwellt,
Und dennoch hatten wir noch immer
Des Glück's genug für eine Welt.
An keine Lösung denkend knüpften
Wir tausend Fäden tändelnd an,
Und wähnten jeden Tag verloren,
Der ohne Kuß und Schwur verrann.
Wir setzten über Kluft und Klippe
Mit Lächeln in verwegnem Sprung;
Wir standen schwindelnd auf dem Gipfel,
Und zagten fast vor Steigerung.
Und nun - o laß uns nicht erröthen! -
Was uns beseligt und beseelt,
Gleicht einem lieblichen Romane,
Dem ach! die letzte Seite fehlt.
Aus: Bifolien Dichtungen von Johann Gabriel Seidl
Dritte verbesserte, vermehrte und mit des Verfassers
Bildniß versehene Auflage
Wien Pfautsch & Compagnie 1843