Estnisches Brautlied einer Waisen

(aus Wierland)

Einsam bin ich wie das Birkhuhn,
Doch das Birkhuhn hat Gefährten!
Einsam bin ich wie die Schwalbe,
Doch die Schwalbe hat ein Männchen!
Einsam bin ich wie der Kranich,
Doch zu sechsen zieht er landwärts!
Wie ein Schwan so bin ich einsam,
Doch der Schwan hat seinen Liebsten!
Einsam bin ich und alleine!
Vater ruht im tiefen Grabe,
Mutter auf dem Gottesacker.
Wölfe lullten mich in Schlummer,
Bären pflegten mich im Walde,
Rehe waren mir Gespielen.

Jedem wol ward Haus und Heimat,
Wohin wandl ich Vaterlose?
Wohin wandr' ich Mutterlose?
Wohin wall ich Bruderlose?
Hin zum Steine, hin zum Stamme,
Hin zum Baume, hin zur Tanne,
In den Schooß der schlanken Erle,
In den Schutz der Birkenarme,
Unter den Fittich grauer Espen? -

Wem enthüll ich meine Sorgen?
Wer verstehet meine Klagen?
Und mein Zorn, wen soll er treffen?
Hier den Stein am Kirchenwege?
Diesen Fließ im Feld des Priesters?
Könnte doch ein Felsen reden,
Und der schwere Fließ erzählen!
Nicht verstehn sie meine Sprache,
Nicht das Flehen junger Bräute.

Klag ich dir, du Ringelblume,
Jammr' ich dir, o Rebenholde,
Oder wein dem jungen Grase?
Wenn sie meinem Jammer lauschen,
Wenn sie meine Klagen hören,
Muß die Rebendolde welken,
Ringelblümchen muß verglühen,
Und das Gras im Thal verblühen. -

Sonntag wallt ich arme Waise
Mit dem Schwesterlein zur Kirche,
Weißes Linnen auf dem Haupte,
In den Händen weiße Tücher,
Feucht mit Thränenschrift gezeichnet.
Laß uns gehn zu Mutters Grabe,
Folge mir zu Vaters Hügel!
- Aus der Tiefe scholl die Stimme:
Wessen Tritt ertönt im Sande,
Und erdröhnt am Grabesrande?
Ich entgegnete mit Seufzen,
Deine Tochter wallt im Sande,
Ihr Tritt hallt am Grabesrande.
Steig empor, du treuer Vater,
Kehre wieder, liebe Mutter!
Bräutlich mir das Haupt zu schmücken,
Festlich meinen Fuß zu zieren,
Hochzeitgaben zu bereiten,
In der Lade sie zu ordnen! -

Aus dem Grabe rief die Mutter:
Armes Kind, nicht darf ich kommen,
Schlummern muß ich Grabesschlummer.
Seidner Rasen sproßt am Hügel,
Weiches Gras entkeimt dem Grabe.
Ob den Augen Blumenfelder,
Ob den Brauen Blütenlüfte,
Mir zu Füßen Ulmenwälder,
Mir zu Häupten Lindendüfte.
Möge Gott das Haupt dir zieren,
Mag Maria aus der Lade
Dich mit Gaben hochbeglücken,
Festlich dir die Füße schmücken." -

"Mutter, Mutter, hör mein Flehen,
Laß dein Kind nicht trostlos gehen!" -
"Töchterchen, mein Schlaf ist ewig!
Treib die Stiere an den Hügel,
Laß die Rinder drüber grasen.
Solches Gras macht starke Rinder,
Solches Futter große Stiere." -
"Gäb es heut ein Auferstehen;
Könnt ich, ach, die Gräber trennen,
Nach dem Spaten wollt ich gehen,
Aus der Stadt die besten holen,
Von dem Markt die schönsten nahmen,
Wollte froh die Schaufel schwenken,
Sand und Grand vom Boden lösen.
Weithin würf ich dann die Erde,
Und den Kies zum Kirchenwege
Und den Sand zur Stadt hinüber! -

Doch es giebt kein Auferstehen,
Kein Erwachen aus dem Grabe.
Nimmer soll ich wiedersehen,
Die ich einst bestattet habe!

Collection: 
1853

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