Erkennen

Vorüber fuhr der Sonnenstrahl
Im goldenen Gewand,
Da jauchzten Berge, Meer und Thal
Sie hatten ihn erkannt.
Die Störche kamen, Nester bauend,
Die Lerchen stiegen, um sich schauend,
Wo schlummernd noch ein Aeuglein lag,
Da weckten sie's mit Wirbelschlag.

Des Strahles Lächeln war so mild
Im goldenen Gewand,
Daß schnell ein blühendes Gefild
Aus öder Flur erstand.
Die dunkeln Tannen, emsig schüttelnd
Das Haupt, der Zweige Nadeln rüttelnd,
Vergaßen längst empfundnes Leid,
Und warfen ab das Trauerkleid.

Als dann auf's neu vorüberfuhr
Der goldne Sonnenstrahl,
Da stand gleich lichter, grüner Schur
Der Wald um Berg und Thal.
In seinem Moose, frisch und kühlend,
Erhob sich, mit den Zephyr spielend,
Die Maienglocke, Kindesglück
Im zarten sternenhellen Blick.

Mit Lust schoß jeder junge Triebe
Hoch auf, voll üpp'gem Saft,
Der Sonnenstrahl, so warm, so lieb,
Lieh jedem Keimchen Kraft.
Und Reigen gab es steigend, schwebend,
In jedem Pulsschlag wonnebebend, -
Sie hatten alle ihn erkannt,
Den Strahl in goldenem Gewand!

Vorüber fuhr der Sonnenstrahl, -
Er hat auch Dich berührt,
Mein Herz, wirst Freuden ohne Zahl
Entgegen nun geführt!
Des Blutes Ströme, schneller jagend,
Der Pulse Beben, höher schlagend, -
Ja, freudig hast auch du erkannt
Den Strahl im goldenen Gewand.

Du siehst im Rosenglanz sie glüh'n,
Die Knospen Deines Glücks!
Du siehst im Lilienschein sie blüh'n,
Die Perlen Deines Blicks!
Wie Alles duftend ist und schwebend!
Wie wonneathmend, Wonne gebend!
O Sonnenstrahl, Du Gottesblick,
Hab' Dank, Du rufst dein Kind zurück!

aus: Deutschlands Dichterinnen
Von H. Kletke
Vierte vermehrte Auflage
Berlin o. J. [1860]

Collection: 
1740

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