I.
Ich hab da eine alte Frau,
Die wohnt zu allernächst dem Himmel,
Denn neunzig Stufen sind's genau,
Und Kinder drauf, ein Mordsgewimmel.
In ihrem Stübchen, blank und rein,
Vertost der laute Hall der Gassen.
Und mählich sinkt die Nacht herein
Verfinsternd auf die Häusermassen.
Der Vollmond klettert über Dach,
Die Sterne leuchten rings im Reigen,
Die Wanduhr tickt nur noch gemach ...
Wir sitzen reglos da und schweigen.
II.
Was hab ich wohl an der alten Frau?
Das weiß ich selber nicht so genau.
Ihr Kaffee kann es doch nicht sein,
Sie gießt mir zuviel Milch hinein.
Nur ihre Bratäpfel lieb ich sehr,
Die pflegt sie für mich in der Ofenröhr.
Was ich wohl an der Alten hab?
Das macht weit draußen ein schmales Grab.
Dort legte sie ihre Hoffnung hinein,
Ein schlankes, blondes Mägdelein.
Das ging durchs Leben still für sich,
Und dachte an einen und der war ich.
Und ward sonst niemandem offenbar,
Daß sie meines Lebens Süße war.
Fühl ich das Leben wirr und rauh,
Dann steig ich empor zu der alten Frau.
Denn ihr bescheidenes Kämmerlein
Schließt meiner Seele Blüte ein.
Und komm ich zu ihr, ist mir weh,
Und wohl nur, wenn ich von ihr geh!
aus: Leuchtende Tage. Neue Gedichte
von Ludwig Jacobowski
Dritte Auflage Berlin 1908