Der Ruf aus der Tiefe

Es zog ein Knabe durchs Schweizerland,
Saß nieder im Dorf, wo er Arbeit fand,
Ein starker, verschlossener Junge,
Trug nie sein Herz auf der Zunge.

Da riefen heimlich die Mädchen ihm zu:
Was für ein Schöner und Stolzer bist du!
Die Mütter machten ihm Augen:
Hier kann dein Stolzkopf nicht taugen!

Des Ammanns Tochter am Kirchweihtanz
Wollt nicht mehr tragen den Jungfernkranz.
Sein war ihr Herz und ihr Wille;
Sie gab ihm den Kranz in der Stille.

Doch als schon der Pfarrer im Chorrock stand,
War der Knabe davon und weit übers Land.
Wie mußte das Mädchen sich grämen,
Und ihr Vater, der Ammann sich schämen.

Bald legte sie sich und säugte ein Kind,
Ein Mädchen so frisch wie der Morgenwind.
Sie drückt’ es mit bitterem Weinen:
Dir wird kein Glücksstern je scheinen!

Auf sprang sie zur Nacht und barg es im Kleid,
Trug’s heimlich geborgen und trug es so weit,
Daß niemand sein Schreien mehr hörte. –
Dort warf’s in den Fluß die Betörte,

Wollt’ selber nach – da riß sie ans Land
Vom Ufergebüsch eine starke Hand:
Hier bin ich! Kannst du vergeben?
Von heut an gehört dir mein Leben!

Gebrochen die Lieb! Gebrochen die Treu!
Verdorben das Kind! Zu spät deine Reu!
Mein Kind, mein Kind in den Wellen!
Das schüttelt den starken Gesellen.

Hart packt er das Weib, schwingt hoch sie hinauf
Und springt mit ihr in den gurgelnden Lauf. –
Der glaubte wohl, daß ihnen riefe
Das tote Kind in der Tiefe.

Collection: 
1922

More from Poet

  • Z’Windischt i dr Bärlisgrueb
    Vor alte lange Zyte
    Händ d’Römerwyber ’s Gaudi gha,
    Wen d’Christe sind cho stryte.

    De Käiser het nid welle ha,
    As d’Lüt zum Häiland bätte.
    „Vor d’Leue mit ene!“ het’s tönt,
    Wi wen si gmordet hätte.

    Do ist es...

  • z’Nacht

    Schwarz gropet d’Nacht dr Aare noh,
    Käis Stärndli schickt e Häiteri.
    ’S mues jeden äinist ’s Läbe loh
    Und usem Liecht a d’Feisteri:

    Hütt isch es glych au gar so still,
    Ke Gäisle ghörst, ke Ysebah!
    Was äine spinnt und wärche wil...

  • I wil nid brieggen, i wil nid lache,
    I säge kem Möntsch ekes Wörtli drvo.
    ’S brucht’s niemer z’wüsse und niemer z’verrote,
    Und niemer cho z’froge: Wi het’s dr to?

    I wil’s verwurge, i wil’s vergässe,
    Wil nüt meh suechen am Jugetfest.
    Und nie meh as...

  • Laß mich mit dir wandern –
    Fern tun sich neue Berge auf,
    Weit gähnt der Weg und windet sich
    Durch Steingefild und Felsenschlucht.
    Doch Hand in Hand, gebückt und froh,
    Erobern wir die erste Fluh.
    Schau’n nie zurück und halten fest,
    Gestützt auf...

  • Vorfrühling

    Schon harren tausend Knospen
    Am noch verschloßnen Tor,
    Dann bricht an allen Enden
    Das junge Laub hervor.

         Schon wandelt an den Hängen
         Ein hoffnungslauer Wind,
         Wo bald die Anemonen
         Vom Schlaf...