Es hat der Felsen die Tanne geliebt
Und hat sie auf Händen getragen,
Hat niemals ihr fröhlich Wachsen getrübt,
In der Jugend blühenden Tagen.
Für ewig wähnte der Fels sie Sein,
Weil sie so fest ihn umschlungen,
Weil in sein altes, hartes Gestein
Der Liebe Würzlein gedrungen.
Da schwoll zum Sturme der Westwind schnell,
Der wollte die Tanne haben,
Es kämpft um die Schlanke der wilde Gesell,
Mit dem alten, verliebten Knaben.
Und die Tanne? - sie riß sich zitternd los
Von dem langgekannten Gesteine,
Sie wankte, sie stürzte in Sturmes Schooß
Hinab, und wurde die Seine.
Doch er, der Treulose, sah sie kaum,
Er brauste mit Lachen von dannen,
Er fuhr durch der Felsen zerklüfteten Raum
Und suchte nach anderen Tannen.
Sie fühlte die kraftlosen Zweiglein all
Erzitternd ins Leere fassen,
Dann war ein Wirbel, ein Graus, ein Fall,
Sie lag im Grunde, verlassen.
Es sah der arme, vergessene Thor
Die Theure zerschmettern, zerschellen,
Da brachen aus seinem Herzen hervor
Unendliche Thränenquellen.
Die sandt er ewig ihr nach, zu Thal,
In unerschöpflichen Fluthen,
Als sollt der Felsen an seiner Qual
Viel tausend Jahre verbluten.
Wohl drängen die Tannen sich rings umher
Und winken im Jugendschimmer,
Umsonst - er achtet auf Keine mehr,
Er weint um die Eine noch immer.
aus: Meine Ruh von Carmen Sylva
Höhen und Tiefen
Zweite Auflage Berlin 1885