Anbetend schweigen

Herz, wie bist du unbescheiden,
Herz, das nie genug empfängt,
Das erfindrisch neuen Leiden
Immer sich entgegendrängt.

Ob ich auch beseligt schaute,
Was mein Geist sich lang' gedacht, -
Burgen, Schlösser, kühngebaute,
Alter Kirchen düstre Pracht,

Friedenvolle Nonnenzellen,
Hochgebirg' im ew'gen Schnee,
Mächt'ger Ströme grüne Wellen,
Leisbewegten Alpensee; -

Ob noch immer meine Augen
Wunder sehn, in sel'ger Lust
Sich ins Reich der Schönheit tauchen, -
Neuer Wunsch durchglüht die Brust:

Ruhe nimmer, bis das Schöne,
Das dein Auge kaum erfaßt,
Du durch Farben, Worte, Töne
Selber nachgesprochen hast.

O Gefangner, brich die Schranken,
Würmlein, heb' dich aus dem Staub!
O die glühenden Gedanken
Sind an deinem Gott ein Raub.

Ihm ja neidest du die Werke,
Wünschest selbst dir Schöpferkraft,
Suchst in dir vermessne Stärke,
Die, was da ist, nacherschafft.

Trinkst nicht still das Licht des Lebens,
Wünscht in dir den Flammenstrahl,
Der es gibt, Gott schickt vergebens
Dir das Glück: du schaffst dir Qual.

Kannst du dich in Ihn versenken,
Dann nur bist du fessellos,
Dich verlierend, Ihn nur denken,
O dann bist du frei und groß.

Nur im süßen Selbstvergessen
Kannst du Theil des Schöpfers sein;
Doch du schaffest kühn vermessen
Gern dir eine Welt allein.

Nun, im sehnenden Verlangen,
Nun, im Drang nach Schöpferlust,
Nun erst fühlst du dich gefangen,
Deiner Ohnmacht dir bewußt.

Lern', o lern' anbetend schweigen,
Dränge nicht dein Ich hervor,
Dann wird Gott sich zu dir neigen
Und in Ihm ziehst du empor!

Collection: 
1857

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