Zum Herrn hin!

Führe meine Seele
An den richt'gen Quell,
Mache meine Sinne
Klar und fest und hell!

Fülle mich von oben
Herr, mit jener Kraft,
Die in Streit und Thränen
Endlich Frieden schafft!
---

Führe mich zurück zu Dir,
Zeige mir, was ich verlassen!
Meine Sehnsucht brennt in mir,
Doch ich kann ihr Ziel nicht fassen.

Meine Last ist mir zu viel,
Sprich ein Wort, so muß sie weichen!
Sei Du meiner Sehnsucht Ziel,
Und dann hilf mir, Dich erreichen!
---

Ich bin weit von Dir verwirrt,
Führe mich nach Haus,
Meine Wege sind verwirrt,
Ziehe mich hinaus!

Meine Seele ist getrübt
Von des Lebens Graus -
Vater, der Du mich geliebt,
Trage mich nach Haus.

Mache mich für Dich bereit,
Zieh mein Kleid mir aus,
Sende mir ein neues Kleid,
Herr, aus Deinem Haus!
---

Herr, ich kann Dir's nicht erklären,
Was mein sehnend Herz bewegt!
Meine Seufzer wirst Du hören,
Die mein Engel aufwärts trägt.

Ja, mein Engel, dessen Flügel
Ueber meinem Herzen schwebt,
Ueber Thäler, Ström' und Hügel
Mich hinauf zur Heimath hebt.

aus: [Anna Karbe] Immergrün
Lieder einer früh Heimgegangenen
Mit einem Vorworte von Emil Frommel
Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]

Collection: 
1876

More from Poet

  • O Sonnenschein, mein Herz ist wach
    Für Deine goldne Wonne,
    Du ziehst mich Deinen Strahlen nach,
    Du klare Frühlingssonne!

    Du machst mein Herz so weit und weich,
    Und doch so schwer zu tragen.
    Du hebst mich bis zum...

  • Die Liebe ist kein leichtes Gut,
    Sie ist ein tiefes, schweres Glück:
    Sie fordert Kraft und Gluth und Muth
    Und einen freien klaren Blick.

    Die Liebe ist kein süßer Traum,
    Sie fordert frisch ein waches Herz;
    Sie hat...

  • Der Lenz war erschienen
    So froh und so frei;
    Da kamen im Grünen
    Die Blumen herbei.

    Da blühten die Rosen
    Mit Veilchen zugleich
    Aus duftenden Moosen,
    Aus blühendem Zweig.

    Nun ist es vergangen...

  • Nein, Schwälbchen, nein, ich fange Dich,
    Nicht eher will ich ruhn;
    Denn niemand auf der Welt als ich,
    Hat was mit Dir zu thun.

    Du hast an Liebchens Fenster Dir
    Dein Nestchen aufgebaut.
    Nun kleine Schwalbe sage mir,...

  • Was mögen wohl die Vögelein
    Heut Morgen gar so fröhlich sein?
    Sie singen laut, sie singen leise
    So wunderbare Frühlingsweise.

    Sie schmettern hell, wie nie zuvor
    Ihr Morgenlied zu Gott empor,
    Als sollte ihrer Lieder...