Wanderträume

O Wahn, man werde, grau geworden,
In Frieden nicht zur Ruhe gehn,
Wenn nicht der Blick in Süd und Norden
Die Wunder dieser Welt gesehn,
Wenn man die Berge nicht erklommen,
Auf deren Grat die Wolke ruht,
Und nicht an Schiffesbord durchschwommen
Die blaue schaumgekrönte Fluth.

Einst träumt auch ich von Alpenmatten
Und Wassersturz von steiler Wand,
Von einem Ruhn im Palmenschatten
An heißer, gelber Wüste Rand,
Von halbversunknen Säulenhallen,
Umkreist von trägem Geierflug,
Von donnerndem Lawinenfallen
Und buntem Karawanenzug.

Es flog mein Traum von Schwedens Tannen
Und blutigrother Nordlichtpracht
Ins Halmgewoge der Savannen
Und in des Urwalds grüne Nacht;
Auf des Rialto Marmortreppe
Verlor ich mich im bunten Troß,
Und schweifte dann durch graue Steppe
Und durch die Wolga schwamm mein Roß.

Ich sah, umwebt vom Duft der Sagen,
Die Burgen stehn am grünen Rhein,
Und schlanke Minarete ragen
Aus dunkelndem Olivenhain,
Und von dem ewig blauen Himmel
Der die Alhambra überspannt,
Hab’ ich im Boulevardgewimmel
Und Themsenebel mich verbannt.

Ich wollte einmal nur beschleichen
Den Bär im Maladettaschnee
Und gehn auf Dünen und auf Deichen
Am Ufersaum der Zuidersee,
Ich wollte vor dem Sturme fliehen
Im Kattegatt in leichter Yacht
Und mit Banater Grenzern ziehen
Am Donaustrand auf Schmugglerwacht.

Wohl ist der Zauber nicht geschwunden,
Der stille Zauber der Natur,
Wie ihn in träumerischen Stunden
Der scheue Knabe schon erfuhr,
Doch um den Reiz der stolzen Namen,
Den Reiz der Ferne ist’s geschehn,
Seit die Natur im engsten Rahmen
In voller Schöne ich gesehn.

Was eines Menschen Werth entscheidet
Ist Fülle des Erlebten nicht –
Nur wie er fühlt und wie er leidet,
Das macht sein Leben zum Gedicht.
Vor der Natur als Gaffer stehen
Ist nicht Genuß und nicht Gewinn –
Mit rechten Augen sie zu sehen
Weiß nur ein tiefer, stiller Sinn.

Laß dich hinaus zum Walde locken
Und glaube mir, er wird dir lieb
Mit seinen schlichten, blauen Glocken,
Mit seinem zarten Fichtentrieb.
Sieh hoch im Blau auf starken Schwingen
Lautlose Kreise ziehn den Weih
Und höre durch das Schweigen dringen
Von fern den schrillen Häherschrei.

Du mußt ihn sehn im Frühlingsregen
Und wenn der Sturm die Wipfel biegt,
Und wenn auf den umbuschten Wegen
Der matte Mondenschimmer liegt;
Du mußt durchschreiten seine Tiefen,
Wenn alles starrt in Winterpracht
Und wenn die braunen Blätter triefen
Nach nebelfeuchter Herbstesnacht.

Du mußt im Spiel der Morgenlichter
Ihn sehn, von Spechtgepoch durchhallt,
Und mußt ihn sehn, wenn dicht und dichter
Sich über ihm ein Wetter ballt.
Er bietet alle Farbentöne
Und jeden Schatten, jedes Licht –
Versenke dich in seine Schöne
Und du bedarfst der Ferne nicht.

Collection: 
1893

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