Der Deserteur

Der Donner rollt, und fahle Blitze zucken ...
Wer ist's, der drüben froh die Mütze schwingt,
Um dann sich scheu in das Gestrüpp zu ducken,
Bevor sein Fuß den Grenzbach überspringt?
Der Mann im Mantel eines Feldsoldaten,
Er scheint Gesicht ausschließlich und Gehör;
Er späht und lauscht. Was ist da lang zu raten?
Ein Russe ist's, ein armer Deserteur.

Man hat sie immer nur als Vieh betrachtet,
Dem nichts als schwarzes Kleienbrot gebührt.
Nun hat man fluchend sie als Vieh verfrachtet,
Das für den Zaren man zur Schlachtbank führt.
Der Reservist, der stets der Knechtschaft grollte,
Er ist verwegen, tatbereit und klug...
Als minder rasch der Todeswagen rollte,
Schwang er entschlossen sich herab vom Zug.

Verhallt der Hufschlag der Kosakenpferde,
Die wie ein Wild den Flüchtigen gehetzt!
Er küßt gerührt die fremde, deutsche Erde,
Denn er ist frei, er ist gerettet jetzt.
Zum letzten Mal der Heimat zugewendet,
Denkt tief ergriffen er an Weib und Kind.
Was ist ihr Los? Zu den Verlassnen sendet
Er einen Scheidegruß durch Nacht und Wind.

Wie wird der Vater diese Zeiten tragen,
Der finstre Greis im Patriarchenbart?
Er wird sich jetzt mit den Kosaken schlagen,
Denn er war nie von duldsam feiger Art.
Die Brüder dann, die oft die Fäuste ballten
Und die zu Männern die Fabrik erzog?
Sie hatten Mut... sie waren nicht zu halten,
Wenn stolz und frei die rote Fahne flog.

Sie schleudern Steine jetzt mit nerv'gen Armen;
Die Freiheit hat zu Streitern sie geweiht...
Da plötzlich sperren preußische Gendarmen
Den schmalen Pfad, die Waffe schußbereit,
Als hätte sie die Erde ausgespieen,
Des Kiefernwaldes knöcheltiefer Sand;
Von barschen Stimmen wird er angeschrieen —
Auf seine Schulter sinkt des Führers Hand.

Man läßt ihm keine Zeit, sich zu besinnen,
Er weiß kein Wort, das seine Häscher rührt,
Aus diesen Fäusten gibt es kein Entrinnen...
Zum Russen-Zollhaus wird er abgeführt.
Und wie man dort bestraft sein frevles Streben,
Wie man zu ihm mit Knutenhieben spricht
Und wie verwüstet und verhunzt sein Leben –
In diesem Punkt täuscht sich der Russe nicht.

Er ist zum Elend und zur Schmach erkoren,
Denn freche Sklaven züchtigt der Tyrann;
Er hat gespielt und hat das Spiel verloren –
In dieses Schicksal fügt er sich als Mann;
Und dennoch legt mit schmerzlicher Gebärde
Vor beide Augen er die braune Hand:
„Ist das die Gastlichkeit der deutschen Erde,
Das deine Freiheit, deutsches Vaterland?“

Collection: 
1905

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