Vergißmeinnicht

Vergißmeinnicht, du siehst mich an,
Als hätte ich dir weh gethan;
Du blickst aus deinem Perlentau
So träumerisch und himmelblau, -
Doch was die leise Thräne spricht,
O sag' es mir, Vergißmeinnicht!

"Ich bin verwandt mit jenem Sterne,
Der an dem Abendhimmel steht;
Drum blickt mein Auge in die Ferne,
Dorthin, wo meine Sehnsucht geht!

Dort oben jener blaue Bogen
Ist meines Samenkornes Stamm;
Drum ist mein Herz hinauf gezogen,
Dorthin zurück, woher ich kam.

Und seh ich Nachts die Sterne scheinen,
Die meinem Herzen noch verwandt,
So muß ich oft vor Sehnsucht weinen
Nach meinem blauen Heimathland.

Die Sonne schaut zur Abendstunde
Als Scheidegruß mir ins Gesicht.
Sie bringt mir aus der Heimath Kunde
Und flüstert: O vergiß mein nicht!

Ich blühe stille fort indessen,
Zum Himmel blickend unverwandt,
Und werde nimmermehr vergessen
Mein liebes blaues Vaterland.

Und wird der Tod mich einst entfärben,
Versenkt mich bald der Sonne Licht,
So seufz' ich hoffend noch im Sterben:
Mein Vaterland, vergiß mein nicht!"

aus: [Anna Karbe] Immergrün
Lieder einer früh Heimgegangenen
Mit einem Vorworte von Emil Frommel
Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]

Collection: 
1876

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