"Wie sich die schwarzen Wolken thürmen!
Die Möve flattert scheu umher;
Die dumpfe Ruh' vor wilden Stürmen
Liegt auf dem weiten, stillen Meer.
Die Wolken steigen hoch und höher,
Es schwillt mein Herz, es wankt mein Fuß,
Doch näher noch zum Strande, näher!
Bebt auch mein Fuß, ich muß, ich muß."
Sie eilt dahin mit raschen Schritten
Durch Sand und Stein mit wilder Hast.
Wohl bebt der Fuß bei ihren Tritten,
Doch läßt das Herz ihr freie Rast.
Nun ist der letzte Berg erstiegen,
Sie klimmt herab von Felsnehöh'.
Und sich zu Füßen sieht sie liegen
Die starre, tiefe, wilde See.
Auf harten Steinen sinkt sie nieder,
Zum Tode matt vom schnellen Lauf.
Dort fliegt die weiße Möve wieder,
Die Wolken ziehen langsam auf.
Nacht ist es; schauerliche Stille
Belauscht der See Gewitterruh;
Die Wolke deckt mit schwarzer Hülle
Das gold'ne Heer der Sterne zu.
Wie eine schauervolle Ahnung
Durchzuckt ein Blitz die finstre Nacht;
Der Donner rollt in dumpfer Mahnung,
Zum Zeichen, daß der Richter wacht.
Schon tobt das Meer mit innerm Grimme,
Es droht in Lüften weit und breit
Wie donnernde Prophetenstimme:
"Wacht auf vom Schlaf, denn es ist Zeit!"
Das Fischermädchen bricht zusammen
Bei dieser grausen Melodei.
Durch Sturmgebraus und Feuerflammen
Erhebt sie ihren Schmerzensschrei:
"O Gott der Liebe, laß mich weinen,
Barmherziger, ich bitte dich!
Ich habe nichts als diesen Einen,
Und dieser Eine nichts als mich."
Sie lieget lange auf den Knieen,
Allein mit Gott und ihrem Leid;
Jehova läßt vorüberziehen
Der Elemente Sturm und Streit.
Allmählig glätten sich die Wogen,
Und ruhig, wie ein müdes Kind,
Sind auch die Wolken heimgezogen,
Und nur von ferne klagt der Wind.
Ein Engel hat die gold'nen Sterne
Von ihrem Schleier frei gemacht;
Sie leuchten doppelt hell und gerne
Auf die erregte stille Nacht,
Sie tauchen sich in alter Weise
Tief in die klaren Wellen ein;
Wie um zu beten, plätschert leise
Die müde See und schlummert ein.
Und als die Augen aufgehoben
Das Mädchen von dem harten Stein,
Da ist's, als blicke sie dort oben
Tief in den blauen Himmel ein.
Denn tausend gold'ne Sterne blinken
Wie Himmelsfenster, aufgethan,
Als wollten sie hinüberwinken:
Getrost, Gott nimmt dein Flehen an!
Und fern von der verborgnen Stätte,
Wo heiße Liebe treu gewacht,
Da hat mit Wind und Sturm zur Wette
Ein Schiff gekämpft die ganze Nacht.
Da ist in Todesangst und Nöthen
Der junge Schiffer hingekniet,
Um zu dem Herrn der Welt zu beten,
Vor welchem Sturm und Wellen flieht.
Die Engel Gottes sind gekommen
Und haben sanft das schwanke Schiff
In ihrer Flügel Schutz genommen,
Vorbei an manchem steilen Riff.
Und als nach dieser Nacht voll Schmerzen
Der Morgenstern am Himmel steht,
Da steigt aus zwei getrosten Herzen
Zu Gott empor ein Dankgebet.
aus: Deutschlands Dichterinnen.
Blüthen deutscher Frauenpoesie
aus den Werken deutscher Dichterinnen
der Vergangenheit und Gegenwart
ausgewählt von Karl Wilhelm Bindewald
Osterwieck / Harz o. J. [1895]