Kennst Du die Rose, die vor Zeiten
Im Paradiese aufgeblüht,
Die Rose, die seit Ewigkeiten
Als wunderbares Reis geglüht?
Die eine heil'ge reine Rose,
Der Gottessegen für die Welt,
Die wunderbar die dunkeln Loose
Mit ihrem Himmelsstrahl erhellt;
Die Rose aus dem Garten Eden,
Die Königin der Ewigkeit,
Die Himmelsrose, die für Jeden
In Duft und Farbenglanz geweiht;
Die Rose, die in Jesu Wunden
So purpurglühend aufgeblüht,
Die sich am Kreuz emporgewunden,
Und uns ans Herz des Lammes zieht.
Die Rose, die der Sonne Strahlen
Entströmt aus ihrem heil'gen Schooß,
Die Rose, die in tausend Qualen
Auf unser Herz den Balsam goß;
Die Rose, die mit Glockentönen
Begegnet unserm Schmerzensruf,
Die Rose, die all' unsre Thränen,
Zu lauter echten Perlen schuf;
Die Rose, die mit ihren Ranken
Hinauf bis in den Himmel steigt,
Und Gottes heilige Gedanken
Zu unserm müden Herzen neigt;
Die Rose, die als lichte Sonne
Des Lebens Nächte uns erhellt,
Die Rose, die zu Trost und Wonne
Erblühte für den Kampf der Welt;
Die Rose, die am hellen Morgen
So frühlingsfrisch im Thau erscheint,
Die in den Nächten banger Sorgen
Das Auge tröstet, das da weint;
Die Rose, die aus Gottes Herzen
Ein sehnendes Erbarmen ringt
Und in das Vaterland der Schmerzen
Den Oelzweig Seines Friedens bringt;
Die Rose, die aus Gott geboren,
Die ewig ohne Wechsel blüht,
Die einst an Salems goldnen Thoren
In wunderbaren Farben glüht;
Die Rose, die dem matten Blicke
Im Todesthal den Balsam reicht.
Die Rose, die als Perlenbrücke
Zum aufgeschloss'nen Himmel steigt;
Die Rose, die im Festgewande,
Die von dem Herrn erwählte Braut,
In Kanaan, im heil'gen Lande,
Mit ihrem Bräutigam vertraut;
Die Rose, deren heil'ge Triebe
Gott selbst in Seinem Herzen trägt,
Die ew'ge Gottesbraut, die Liebe,
Die Gott gemacht, gepflanzt, gepflegt.
O wunderbare Purpurblüthe,
Des großen Gottes Heiligthum,
Vom ew'gen Feuer ganz durchglühte,
Du heilig Reis, zu Gottes Ruhm!
O Liebe laß in Deinen Zweigen,
Die Gott zum Himmel wachsen ließ,
Uns höher, immer höher steigen,
Bis in der Liebe Paradies!
aus: [Anna Karbe] Immergrün
Lieder einer früh Heimgegangenen
Mit einem Vorworte von Emil Frommel
Berlin Verlag von Wiegandt & Grieben [1876]