Brief

Nicht ungeschrieben soll es bleiben,
Kommt es auch nie in deine Hand;
Was ich verschwiegen, laß mich schreiben,
Denn mein ist, was an dir ich fand.
Ich hatte dich ja Tag und Nacht
Ersehnt, geahnt, in Traumesnot;
Oft bin ich schluchzend aufgewacht
Und glaubte, du seist lange tot.
Da glomm ein stilles, heil'ges Licht,
Und in der Larven öder Schar
Sah ich dein maskenlos Gesicht
Mir zugewendet sonnenklar.
Und sonnenhell traf mich dein Blick;
Es läßt ein Schicksal sich nicht wenden,
In Demut nahm ich mein Geschick
Aus deinen schlanken Sonntagshänden.
Wir hatten uns noch nie gesehn
Und haben uns so rasch erkannt,
Umrauscht vom gleichen Sturmeswehn
Und stammend aus demselben Land.
Ein Land, wo blasses Leid umgeht.
Wo todgeweihte Menschen wohnen,
Und wo der Rabe kreischt: Zu spät!
Hoch über windverwehten Kronen.

Ein Land mit säulenreichem Dom,
Wo keine Bittgesuche frommen,
Kein Brückenjoch wächst überm Strom
Zum jubelnden Zusammenkommen.

O du! gefunden und verloren!
Vom Sturmwind wieder fortgeweht
Im Land, wo hoch ob allen Toren
"Laßt alle Hoffnung fahren!" steht.

Ich wandle frei, Haupt in den Lüften,
Und lausche deiner Stimme Klang,
Denn du und ich, hoch über Grüften,
Wir schweben wie ein Zwiegesang.

Dem Brief, der dich nicht finden kann,
Soll zur verschwiegnen Aufschrift werden
Ein Wort nur: "Ihm, dem lieben Mann!"
Und: "Irgendwo auf Gottes Erden!"

Collection: 
1917

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