Dämmerstunde

Ein Schaukelstuhl, um leise mich zu wiegen,
Dahinter ihre zierliche Gestalt,
Zwei Händchen, die auf meinen Schultern liegen,
Als suchten die verwaisten festen Halt.
Allmählich werfen Schatten sich ins Zimmer,
Dann schüttet sie die rhythmische Gewalt
Schmerzlicher Lieder in den Abendschimmer,
Hinreißend, ohne Halt ...

So sitz ich oft bei ihr zur Dämmerstunde
Und bin beglückt, bezwungen und bewegt.
Dann schweigen wir und hören in der Runde
Nur unser Herz, das jetzt verdoppelt schlägt,
Und fühlen, wie in tiefstem Seelengrunde
Der Jubel keine Fessel mehr erträgt;
Und plötzlich hängt sie bebend mir am Munde,
Ganz wunderlich erregt.

aus: Leuchtende Tage. Neue Gedichte
von Ludwig Jacobowski
Dritte Auflage Berlin 1908

Collection: 
1884

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