Berglieder

1.
Steh' auf öder Bergeskuppe,
Schaue stumm herab in's Thal,
Und in meiner Brust erwacht
Alter Groll und alte Qual.

Rauh wie diese Felsenblöcke,
Ausgedörrt vom tiefen Schmerz,
Wie die sturmzerzauste Tanne
Welk, gefühllos ist mein Herz.

Lehne deinen warmen Busen
Mitleidsvoll an meine Brust,
Daß mein Herz noch einmal lodre
In der längst entwöhnten Lust.

Daß es einmal noch empfinde,
Was in Blumendüften weht,
Was mit Sternenschrift am Himmel
Wunderbar geschrieben steht.

Laß noch einmal tief mich schauen
Dir in's fromme Aug' hinein,
Laß mich nur noch einmal selig,
Nur noch einmal glücklich sein.

Schlinge fester deine Arme
Um das kalte Marmorbild,
Daß dein Kuß wie neues Leben
Glühend durch die Adern quillt.

Daß die starre Eisesrinde
Vom erstorb'nen Herzen fällt,
Daß es einmal noch umfange
Heiß in dir die ganze Welt.

2.
Hab' endlich dich nach langer Zeit,
O Waldeseinsamkeit gefunden!
Und sieh, nun blutet mir das Herz
Aus tausend glühend heißen Wunden.

Bei Vogelsang und Blumenduft
Wollt' ich von meinem Weh genesen, -
Doch ist mein Herz wol nie so wund,
Wol nie so krank wie jetzt gewesen.

O Einsamkeit, bist du ein Fluch,
Nährst du das Weh im Menschenherzen,
Verbirgst du unterm Blütenduft
Den Gifthauch tausendfacher Schmerzen?

Wiegt deiner Nachtigallen Lied,
Der Winde Weh'n im Laub der Bäume,
Das Murmeln deines Silberbachs
Das Herz in tiefe Schmerzensträume?

O nein! es gibt die Einsamkeit
Nur das Gefühl des Schmerzes wieder,
Dem trocknen Auge Thränen nur
Und dem erstorb'nen Herzen Lieder.

3.
Folgt mir in diese heil'ge Stille,
In diese Waldeseinsamkeit
Der Fluch, der ewig mich begleitet,
Der, was von mir berührt, entweiht?

Der Epheu welket, den ich spielend
Als Kranz um meine Stirne wand,
Die Blumen, die ich kaum gepflücket,
Sie sterben hin in meiner Hand.

Im grünen Waldesdunkel knicket
Bei jedem Schritte Blatt und Ast,
Und bunte Blüten, gold'ne Käfer
Erdrücket meines Körpers Last.

Und an der grünbemoosten Stelle,
Wo mich die süße Ruh erquickt,
Ist jeder junge Keim verdorben,
Ist jeder grüne Halm geknickt.

Bin ich umsonst der Welt entflohen,
Wo jedes Auge sich getrübt,
Wo jedes Herz dahin gewelket,
Das innig mich und heiß geliebt?

O, dieser Fluch, der mich begleitet,
Es ist mein eig'ner tiefer Schmerz!
Ich träufle ihn in jede Seele,
In jedes duft'ge Blumenherz.

aus: Deutscher Musenalmanach
für das Jahr 1850
Herausgegeben von Christian Schad
Nürnberg 1850

Collection: 
1850

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