Ostseelieder

1. Vineta
Hier stand die Stadt der Städte,
Die sich Vineta nannt.
Die See verließ ihr Bette
Und schluckte Stadt und Strand.
Die Wellen kamen gesprungen
Und würgten Städter und Stadt,
Vineta, das immer gesungen
Und niemals gebetet hat.

Heut rauschen Wogen und Winde,
Wo Trubel und Tanz getollt.
Stumm ward die singende Sünde
Und stumm das klingende Gold;
Nur Glockenstimmen durchbeben
Mitunter die laute Flut,
Darunter das stille Leben
Vinetas begraben ruht.

Ich hab die Glocken vernommen,
Sie klagen wunderlich weh.
Sie konnten aus Tiefen kommen
Und können doch nie zur Höh.
Sie stöhnen so dumpf und trübe,
Von tiefen Stürmen gewiegt,
Wie eine unsterbliche Liebe,
Die lebend im Grabe liegt. -

2. Gleichnisse
Wenn sich Meer und Himmel küssen,
Mund auf Mund im Abendrot, -
Sollt ich deinen nicht vermissen,
Der sich einst so lieblich bot?

Wenn die Flut sich schmiegt und schmeichelt
Auf den weißen Dünensand, -
Ach, so hab ich dich gestreichelt
Zärtlich einst mit zarter Hand!

Einer Möwe Silberschwingen
Blitzen auf und schwingen weit -
Flüchtig wie die Tage gingen
Jener silberschwingigen Zeit. -

Wogendrang und weißes Schäumen,
Ewig rastlos, bannt den Blick -
Ewig rastlos wogt mein Träumen
An den Strand der Insel Glück.

Wenn aus Höhen in die Tiefe
Klagend dann ein Adler schreit,
Ist's, als ob ein Echo riefe
Antwort meinem Sehnsuchtsleid! ...

3. Bernstein
Heut hat die See gestürmt,
Und ihre Wellenjungen,
Fünf Ellen hoch getürmt,
Sind zwanzig weit gesprungen.

Den halben Strand bedeckt
Der Muscheln Myriade.
Ein Tümmler liegt verreckt
Fettglänzend am Gestade.

Doch hier und da im Tang
Erblitzt im Morgenlichte
Braunrot und blondhaarblank
Das Herz der Urweltfichte.

Versunkener Wälder Blut,
Das blühend sich verschwendet,
Hat die empörte Flut
Im Bernstein uns gespendet.

Den Wald verfault und schwarz
Hat längst die See zerrieben.
Es ist allein das Harz
Goldklar und blank geblieben.

So bleib von einem Glück,
Das längst die Zeit verschlungen,
Das Edle mir zurück
In dem, was ich gesungen;

In Liedern, die bewegt
Aus tief zerwühltem Innern
Manchmal zum Munde trägt
Ein schmerzliches Erinnern! -

Wie Bernstein mir beschert
Nach stürmischem Erschauern,
Wird tief wie er geklärt
Ihr Gold mich überdauern! - - -

aus: Brückenlieder Ein Gedichtbuch
von Georg Busse-Palma
Albert Langen Verlag für Litteratur und Kunst
München 1906

Collection: 
1903

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