Fensterpromenade

Fast alle Häuser schlafen noch in der alten Gasse.
An ihren Schnörkeln und Giebeln hängt der graue, nasse
Morgennebel in boshaft träger Masse.

Ich weiß ja, Lilith, daß es eine Torheit ist,
in so freudloser Stunde vor deiner Türe zu stehen
und verliebt nach einem verhängten Fenster zu spähen,
wie in dummen Knabentagen — die man doch nie vergißt.

Ich würde auch heute noch gleich beschämt verschwinden,
wenn sich der Vorhang bewegte da oben hinter den blinden,
milchopaligen Scheiben; denn du sollst mich nicht finden,
wenn ich stumme Zwiesprach halte mit meinem Echten
und weit bin von allem Klugen, Bedachten und Rechten —.

Träumtest du, Lilith? Oder hast du sinnend gewacht?
Oder war mein Freund, der schöne, bei dir heute Nacht!
Und ihr küßtet euch oft — und habt über mich gelacht — —
Siehst du: nun weiß ich plötzlich, daß du mich gar nicht liebst
und dich dem andern mit der spöttischen Stirne vergibst,
denn er hebt dich in keine heiligen Himmel, gleich mir,
und betet nicht selig zu allem Reinen in dir
und wird dir nimmer sein Erstes und Letztes weihen,
wie ich getan. — Und das kannst du mir nie verzeihen. —

Collection: 
1919

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