Eine Ostererinnerung

Erinn’rung ruft in meiner Seele
Ein Bild herauf aus früher Zeit:
Das Herz war rein und ohne Fehle,
Ein Schneeglöcklein im Frühlingskleid.
Wie das sich wiegt auf zartem Stengel,
Von jedem leisen Hauch berührt,
So bebt’ ich, da der Kindheit Engel
Zu dem der Jugend mich geführt.

Am Osterfest im Feierkleide
Kniet ich am heiligen Altar,
Die Engel schwebten mir zur Seite,
Der Priester bot den Kelch mir dar:
„Ich will“ – er sprach mit leisem Beben
Den Spruch, den er als Segen bot –
„Dir einst des Lebens Krone geben,
Doch sei getreu bis in den Tod.“

„Bis in den Tod!“ das Wort schlug zündend
In meine Brust wie Blitzesstrahl,
Den Kampf des Lebens mir verkündend
Mit Feindesmächten ohne Zahl.
Der goldne Kelch mit seinem Blinken,
Ward zum prophetischen Symbol –,
Vom Kelch des Leidens sollt’ ich trinken
Noch oft und viel – ich ahnt’ es wohl.

Ich ahnt’ es wohl mit stillem Schauer –
Mir war, ich sei zum Kampf gefeit;
In meine Brust kam keine Trauer,
Still ward mein Herz und groß und weit;
Es sehnte sich nach großen Stunden
Von Kampfbegeisterung entbrannt,
Es bebte nicht vor tiefen Wunden
Geschlagen von des Schicksals Hand.

Ich eilte vom Altar der Weihe
Hinaus in die erwachte Flur,
Die Lerche schmetterte, die freie,
Rings lachte hold des Lenzes Spur;
Die ersten Veilchen sah ich blühen –
Ein Dornenstrauch darüber stand,
Ich pflückte sie mit stillem Mühen –
Und Blut entquoll der Kindeshand.

Ein neu’ Symbol! ich kniete nieder
Und betete zu Gott empor:
„O gieb mir Veilchen, gieb mir Lieder,
Wie frei sie singt der Lerchenchor
Vom Kelch der Leiden will ich trinken. –
Er ist der Kelch des Lebens auch!
Im Kampfe soll der Mut nicht sinken,
Im Sturm weht der Begeistrung Hauch!“

„Ich möchte Dich um Leiden flehen
Statt sanfter Ruhe, die erschlafft,
Ich kann dem Schmerz ins Auge sehen,
Denn nur im Kampfe wächst die Kraft“ –
Der Himmel stand in Sonnenflammen,
Im Westen glühte Abendroth,
Ich schauerte in mir zusammen:
„Laß mich getreu sein bis zum Tod.“

Ein träumend Kind von fünfzehn Jahren,
Das solch Gebet mit Andacht sprach –
War wohl ein Frevel solch Gebahren?
Ich sinne still der Frage nach.
Erhört ward des Gebetes Schauer,
Es kam das Leid und Kampf und Schmerz,
Es kamen Tage tiefster Trauer,
Und keine Ruhe fand das Herz!

Wohl fliegen Engel auf und nieder
Und standen ihm im Leide bei,
Wohl fand es freie Lerchenlieder,
Ward ihm zum Lied der Schmerzensschrei;
Wohl blühten Veilchen ihm im Lenze,
Im Sommer Rosen wonnevoll –
Doch auf der Liebe schönste Kränze
Des Auges Schmerzensthräne quoll.

Du hast’s erfleht, Du darfst nicht klagen,
Sei stark mein Herz im neuen Streit!
Kein Ruhen gilt und kein Verzagen,
Du bist gestählt im Kampf und Leid.
Und kannst Du nicht mehr überwinden
Das Schwerste, was das Schicksal bot,
Dann wird der letzte Kampf Dich finden:
Du konntest „treu sein bis zum Tod!“

Collection: 
1893

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