Eherne Maiglocken

Wir fordern nicht bloß den Achtstundentag,
der kommen wird, wann er auch kommen mag,
ob willig nun, ob murrend nur beschieden:
Von Millionen rollt am Ersten Mai
empor zum Himmel der Erlösungsschrei
nach Völkerfreiheit und nach Völkerfrieden.

Ein Bild des Wahnsinns bietet sich uns jetzt:
Ein Volk aufs andere rücksichtslos gehetzt,
Erdteil auf Erdteil, Rasse wider Rasse.
Vergessen ist, was einigt und versöhnt,
Und an der Wende des Jahrhunderts frönt
der Herrschsucht man, der Habgier und dem Hasse.

Und dabei rufen sie – es klingt wie Spott! –
Allah und Wischnu und den Christengott
inbrünstig an mit jedem Tag der Weihe,
daß er entsende seiner Engel Schwarm,
daß er den starken, den Zerschmettrerarm
dem blutgen Siege und der Plündrung leihe!

Solang sich diesem grauenhaften Bann
die Menschheit nicht entschwinden will noch kann,
sind wir ein Haufe von Verbrechergilden,
von zügellosen Räuberbanden nur;
wir haben keinen Anspruch auf Kultur,
und besser sind und höher stehn die Wilden.

So kann’s nicht bleiben, doch von wannen kommt
die Hilfe einst, die Rettung, die uns frommt,
wer bricht den Bann der Habgier und des Bösen?
Das Volk allein, das alle Opfer bringt,
das Volk allein, das blutet, darbt und ringt,
wird von dem finster Unsinn uns erlösen.

Wenn erst das Volk, das ihr so lange zwangt,
zum Vollbewußtsein seiner Kraft gelangt
und seiner Sendung – wer will widerstehen?
Laut wird die Tiefe, die so lange schwieg,
wir aber wollen diesen Zukunftssieg
im voraus schon am Ersten Mai begehen!

Collection: 
1884

More from Poet

  • (1889.)

    Als zu des schönen Friedensfestes Feier
    Die Reiche alle la belle France entbot,
    Da barg ein jedes hinter dichtem Schleier
    Der Wange züchtiges, verschämtes Roth.
    Von jedem kam ein höflich kühles Schreiben –
    Sie lehnten...

  • (1890.)

    Das giebt ein ehrenreiches Jahr!
    Du zwanzigster des Februar,
    Wir werden dein gedenken
    In hoher Lust, in Mannesstolz,
    Bis sie im Sarg von Tannenholz
    Uns in die Erde senken.

    Nach langer Nacht ein glorreich Licht!
    ...

  • So oft ich noch zu Büchern der Geschichte
    Geflüchtet mich in stiller, tiefer Nacht,
    Der ernsten Sammlung tragischer Gedichte,
    Wie sie kein Träumer brennender erdacht,
    Hab’ ich die Blätter umgewandt mit Beben
    Und scheu geschlossen das gewicht’ge Buch,
    ...

  • (Letzte Nummer des „Sozialdemokrat,“ 27. Sept. 1890.)

    Ihr habt über ihn das Exil verhängt,
    Ihr Ritter von Bibel und Säbel;
    Ihr habt an den Fuß ihn der Gletscher versprengt
    Und in Englands stickige Nebel;
    Doch hat er sich allzeit der Feinde...

  • Ich habe kaum ein Wort mit dir gesprochen,
    Ich habe kaum ins Auge dir gesehn,
    Und dennoch hast du meinen Stolz gebrochen –
    Ein süßes Wunder ist an mir geschehn;
    Doch ward die Saat des Glückes, kaum entsprossen,
    Von scharfer Sichel nieder auch gemäht –
    ...