An die Nachtigall

Begeistre mich, o Freundin Philomele,
Durch deiner Lieder tief gefühlten Klang!
Durch deine Seufzer! Stimm' auch meine Seele
Zu wehmuthsvoller Zärtlichkeit Gesang!

Schon floh der Mai, der Schöpfer süsser Lieder;
Doch scharf und kalt war seines Odems Hauch,
Die Blüthe sank vom Sturm entblättert nieder,
Und später Frost entlaubte Baum und Strauch!

Du aber sangst, wenn gleich die Morgenröthe
In grauer Wolkendämmrung sich verlor,
Und Abends noch drang rein, wie Dülons Flöte,
Dein Silberschlag mir, trotz dem Sturm', ins Ohr.

Denn, o du singst ja nicht allein den Freuden,
Nein! auch der Wehmuth und dem leisen Schmerz;
Stimmst sympathetisch zum Gefühl der Leiden
Durch Ahndungsmelodien ein weiches Herz.

O Freundin! Lehr' auch mich den Rosenschleier
Der Phantasie um trübe Tage ziehn;
Dann wird, bei der Erinnrung stiller Feier,
Der Hoffnung Reis mir selbst auf Gräbern blühn.

Ist nicht die Flur, wenn falbe Wolken thauen,
Wenn Frühlingsregen Saat und Blumen beugt,
Oft schöner noch, als hellbeglänzte Auen,
Worauf die Sonn' ihr Stralenantlitz neigt?

So sind auch Stunden, der verborgnen Trauer,
Der Wehmuth und dem weisen Ernst geweiht,
Gewogner der Begeistrung sanftrem Schauer,
Und lieblicher, als laute Fröhlichkeit.

Denn unserm Geist sind unvermischte Freuden,
Was ungetrübter Sonnenglanz der Flur:
Drum gab dem Lenze Sturm, dem Menschen Leiden,
Aus gleicher Huld, der Vater der Natur.

Collection: 
1838

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