Der erste Kuss

Triumphierend lag die gold'ne Landschaft,
Triumphierend lächelte der Himmel,
Triumphierend jauchzten die Geschöpfe.

Fluren dufteten und Ströme schäumten,
Alle Schwingen hatten sich entfaltet,
Aus den Larven drangen junge Leben,
Blumen trieben aus den Kirchhofsgräbern.

Welches Glück war denn herabgekommen,
Daß solch Festgejubel plötzlich herrschte?
War der Tod gestorben? Nein, noch Schöneres
War gescheh'n: Der Frühling war geboren.

"Frühling", dachte Iris, durch die gold'ne
Erdreichduftige Wärme langsam wandelnd,
"Menschen, weshalb preist ihr nur den Frühling?" - - -

Sie verstand ihn nicht, die Königstochter.
Knospen gleich schlief ihre junge Seele,
Still behütet von der Hand des Vaters.

Sommer kam und ging.
Die Wintertage
Wichen neuem Lenzen. Leise raunte
Vor sich hin die junge Königstochter:
"Menschen, weshalb preist ihr nur den Frühling?"

Und sie trat hinaus aus hoch umschloss'nen
Palmengärten, eilte durch die Felder,
Durch die blumenfrohen, bunten Wiesen,
Wo sich junge Gräser zärtlich küßten.

Sinnend hing ihr stilles Aug' an diesen,
Sah hinaus in lichtdurchscheinte Weiten,
Sah die Schwalben tanzen durch den Aether,
Und sie schüttelte die hellen Locken.

Einmal aber war's so märchenselig
Draußen in der gold'nen Frühlingsstimmung,
War's so schön wie nie.
Die Glocken sangen
In den Dörfern rings, als wär' es Sonntag.

Winde läuteten die frommen Glocken,
Junge, übermütige Frühlingswinde,
Alle Menschen falteten die Hände,
Und die Blumen senkten ihre Häupter.

In dem knospenroten Tannenwald
Stand die Königstochter und sie lauschte
Jenen Tönen und zum erstenmale
Klang ihr ahnungsvolles Herz mit ihnen.

Da berührte sie ein warmer Odem,
Und ein Jünglingsarm schlang zärtlich-schüchtern
Sich um ihren Leib.
"Phylander!"
"Iris!
Kannst du heute zürnen, heute! heute!
Hör die Glocken, sieh die Himmelsschlüssel
Die das Paradies uns öffnen, glänzen,
Sieh der tausend Purpurflügel Tanz,
Frühling, Frühling ist's, o Iris, Frühling" - - -

Und er neigte sich auf ihre Lippen
Tief herab. Die junge Königstochter
Sah mit großen Augen in den Himmel,
Hörte ferne, selige Glockenklänge. - - -
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

"Bist so bleich, mein Kind," sprach mild der König,
Doch ein tiefer, strahlend-froher Blick,
Traf ihn aus den dunklen Jungfraunaugen.
"Niemals war ich noch so froh, mein Vater."

Oefter ging sie hin zum Walde, öfter
Saß sie einsam dort viel' lange Tage,
Saß im Lenz, im Sommer, aber niemals
Nahte jene Stunde neu verkörpert.

Mondlicht sah sie wandeln zu den Dörfern,
Wo die Glocken einst so selig klangen,
Mondlicht sah sie Himmelsschlüssel suchen,
Nimmer fand sie den zu ihrem Himmel.

Große Trauer ging da durch die Lande,
Iris, sie, die holde Königstochter,
War erkrankt an einem schweren Leide,
Das kein einziger Arzt zu bannen wußte.

Jeder Morgen sah sie schwächer werden,
Einer Säule weißem Rauches glich sie,
Die ein Windhauch jäh verflüchtigen konnte.

Eines Abends trat der Arzt zum König,
Und er sprach nichts als das Wörtchen: "Heute!"
"Heute!" rief der König und er stürzte
Auf die Knie vor seinem kranken Kinde.

"Iris, Liebling, sage, gibt’s auf Erden
Nichts Erschaff'nes, das dich deinem Vater
Wieder gäbe? Wunder möcht' ich wirken!" - - -

Da erhob sie ihre müden Augen
Sanft zu ihm und leiser Schimmer färbte
Ihre alabasterbleichen Züge.

"Wunder möchtest du aus Liebe wirken?
Nun, so wirke sie. Im Frühling küßte
Mich Pylander, zürne nicht, der Hirte.
Nur sein Kuß gibt mich dem Leben wieder." - - -

Wortlos schlug der Königsgreis die Hände
Vor das Angesicht, dann ging er langsam
Von dem Bette seiner blassen Tochter,
Um den braunen Hirten aufzusuchen.
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

Frühling war's. Auf sonnigen Wiesen spielten
Junge Blumen, wiegten gold'ne Falter
Sich im Blau. Die knospenroten Wälder
Glichen einem weiten Brautgemache.

Langsam wandelte in weißen Schleiern
Aus den hochumschloss'nen Königsgärten
Iris, die dem Leben Neugewonnene.

Sachte tritt sie in den Wald, da grüßen
Ferne Glocken sanft, da neigt sich leise
Auf das Königskind ein hoher Jüngling.

"Iris! Frühling ist es! Lang geschmachtet
Hab' ich nach dem lieben Antlitz. Ehrfurcht
Hielt mich ab, auf's neue dir zu nahen. - - -

Frühling, Iris!" Und er beugt sich nieder
Zu den Rosen, die entgegenblühen
Seinem Munde. "Frühling, Iris ist es." - - -

Glocken läuten in den Tälern unten,
Himmelsschlüssel glänzen in den Wiesen,
Aber sie vernimmt kein Glockenläuten.

Ihre Augen sehen keinen Himmel
Denn sie sind geschlossen. Festgeschlossen
Ruhen alle Sinne, nur die Lippen
Küssen, trinken, nur die Lippen wachen. - - -

"War's wie damals?" fragte mild der Vater,
Als sie spät, im leisen Mondenglanze
In die hochumschloss'nen Palmengärten
Langsam mit gesenkter Stirne eintrat.

Weinend sank sie an die Brust des Edlen.
"Nein, mein Vater! Keinen Himmel sah ich,
Und ich hörte keine Glocken singen,
Nur sein Kuß erfüllte meine Sinne.

Vater, Vater! Kann es nimmer werden
So wie einstens." - - -
Heiße Kindersehnsucht
Schluchzte aus der Brust der Königstochter.

"So wie einstens!" - - -
Mondlicht rann hernieder,
Und das greise Männerhaupt sah träumend
In die dämmerhafte, weiße Helle.

"So wie einstens! Küssen und den Himmel
Spüren über sich und beten küssend,
Ist nur einmal möglich, liebe Tochter,
Wenn die Liebe küßt zum erstenmale." - - -
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

Bleich blieb Iris.
Sah den Hirten nimmer.
Träumen war ihr Leben, langsam Welken.
Kann ein Sterblicher wohl Erd' und Himmel
In der engen Brust zugleich umfangen?

Aus: Maria Janitschek Gesammelte Gedichte
Vierte Auflage München 1910

Collection: 
1910

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