Salomonische Lieder

1.
Der Winter ist vergangen,
Der Regen ist dahin,
Und Wiesenblumen prangen
Zum Kranz der Schäferin.

Schon wird, den Hain durchirrend,
Die Turteltaube laut,
Die liebend girrt, und girrend
Das Nest der Liebe baut.

Schon treibt die von den Todten
Erstandne Lebenskraft
Im Feigenbaume Knoten;
Die Ranke trieft von Saft.

Sie duftet in die Laube
Den Wohlgeruch hinein.
Komm, Freundin, süße Taube,
Komm in den Rebenhain!

Laß unter frohen Chören
Von Wald- und Feldgetön
Mich deine Stimme hören,
Und deine Schönheit sehn!

Denn lieblich sind die Töne,
Wenn deine Stimme schallt,
Und hold ist deine schöne,
Sanft blühende Gestalt. (Band 2 S. 157-158)

2.
Wechselgesang

Sie
Du, den meine Seele liebt, o sage,
Sag', in welchen Rosen weidest du?
Unter welchem Nachtigallenschlage
Deckt die Ceder deine Mittagsruh?

Sage mir, wo duften dich die Myrten,
Und die Liljen, und die Rosen an?
Sage mir es, daß ich bei den Hirten
Nicht vergebens irre, süßer Mann! -

Er
Fehlt dir Kunde, lieblichste der Frauen?
So geleite, holde Schäferin,
Deine Lämmer hin nach jenen Auen,
Weide nach den Hirtenhäusern hin!

Tritt hervor, und wecke das Entzücken!
Alles, was der Schönheit Strahlen leiht,
Soll dich, königliches Mädchen, schmücken,
Schmücken soll dich jede Herrlichkeit! -

Sie
Schauet meinen Freund! ihr könnt nicht irren;
Hoch und herrlich wandelt er einher.
Lieblich, wie mein Busenstrauß von Myrrhen,
Kräftig-mild, wie Traubensaft, ist er. -

Er
Meine Freundin, durch sich selbst geschmücket,
Ragt vor allen Weibern hoch empor!
Seht, aus ihren Taubenaugen blicket
Ihre schöne Unschuldseel' hervor!

Sie
Schön ist er, und Lieb' und Lenz bereiten
Uns ein grünes, duftendes Gemach.

Er
Schön ist sie; um unsre Traulichkeiten
Schwebt ein Cedern- und Cypressendach. (Band 2 S. 158-160)

3.
Sulamith
Schön ist mein Geliebter! - Dort ging er hinab. -
Seht den holden Mann! schwarze Locken wallen,
Gleich dem Wasserfalle, seine Stirn herab;
Herrlich strahlt sein Haupt; schön ist er vor Allen.

Schön ist mein Geliebter! Seinem Aug' entblickt
Sanfter Taubensinn, voll Huld und Güte;
Seine Wange blühet, wie vom Lenz geschmückt;
Und sein holder Mund glänzt, wie Rosenblüte.

Wie die Kraft der Myrrhe, süß und würzereich,
Ist der holde Mund, wo die Suada waltet;
Seine Hand ist blendend, zart ist sie und weich;
Stolz, wie Libanon, ist mein Freund gestaltet.

Er ist, wie die Ceder; rein, wie Elfenbein;
Seine Stimm' ist süß, gleich den Harfenlauten:
So ist mein Geliebter. Führt ihn mir herein!
Töchter! ich beschwör' euch, sucht mir meinen Trauten!

Er ist hin gegangen zu den Spezerei'n,
Die der Gartenflor duftig ihm vergeudet;
Hin ist er gegangen zu dem Gartenhain,
Wo er Rosen bricht, und in Rosen weidet. (Band 2 S. 161-162)

4.
Wer ist, die glänzend vor dem Volke,
Herab von Sarons Höhen schwebt,
Wie eine lichtbestrahlte Wolke,
Die aus dem Dufthain sich erhebt?

Sie blühet herrlich, wie die Mandel,
Wenn sich die Lerche hören läßt;
Und schön und herrlich ist ihr Wandel;
Sie naht sich, wie ein Frühlingsfest.

Ihr Haupt ist, wie die Cederspitze,
Die auf dem Libanon sich neigt;
Ihr Auge gleich dem stillen Blitze
Der Sommernacht, wenn alles schweigt.

Seht, ihres Mundes Perlenreihe,
Mit Rosenpurpur überwebt,
Um den der Liebe süße Weihe,
Das seligheitre Lächeln schwebt!

Gleicht ihre Rede nicht dem Thaue,
Der eine Blumenflur erquickt?
Ihr Schweigen ist die stille Aue,
Worauf der Stern der Liebe blickt.

Von Wohlgerüchen trieft die Schwinge
Der Luft; sie ward in Rosen wach,
Und trägt die seidnen Lockenringe
Der hohen Fürstentochter nach.

So schön sie ist in keuscher Hülle:
Kein Fremder dürfe sich ihr nahn!
Nur mir sey diese Gartenfülle
Voll Lieb' und Frühling aufgethan!

Ich will zum Myrrhenberge gehen;
Ich will das frisch ergossne Grün,
Und meinen Weihrauchhügel sehen,
Ob meine Würzgesträuche blühn.

Die Winde, die auf Bergen schliefen,
Stehn auf, und werden milde Luft,
Daß würzig meine Myrrhen triefen.
Die Holde bade sich in Duft!

Komm, meine Huldin, meine Taube!
Komm, athme lenzisches Gefühl!
Zeuch ein in meine Gartenlaube,
Denn meine Laub' ist frisch und kühl!

Sei hoch und herrlich mir willkommen,
Die du von Sarons Höhen kamst!
Dein Blick hat mir das Herz genommen:
Vergüte mir, was du mir nahmst. (Band 2 S. 162-164)

Collection: 
1841

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