Der Morgen

Dein morgentiefes Auge ist in mir, Marie.
Ich fühle, wie es durch die Dämmerung mich umfängt
Der weiten Kirche. Stille will ich knien und warten, wie
Dein Tag aus den erblühten Heiligenfenstern zu mir drängt.

Wie kommt er sanft und gut
und wie mit väterlicher Hand
Umschwichtigend. Wann wars,
daß er mit grellen Fratzen mich genarrt,
Auf Vorstadtgassen,
wenn mein Hunger nirgends sich ein Obdach fand -
Oder in grauen Stuben mich
aus fremden Blicken angestarrt?

Nun strömt er warm wie Sommerregen über mein Gesicht
Und wie dein Atem voller Rosenduft, Marie,
Und meiner Seele dumpf verwirrt Getön hebt sanft sein Licht
In deines Lebens morgenreine Melodie.

Aus: Ernst Stadler Der Aufbruch Gedichte
Kurt Wolff Verlag München 1920

Collection: 
1905

More from Poet

Erst war grenzenloser Durst,
ausholend Glück, schamvolles Sichbeschauen,
Abends in der Jungenstube, wenn die Lampe ausgieng,
Zärtlichkeiten überschwänglich hingeströmt
an traumerschaffne Frauen,
Verzückte Worte ins Leere...

1.
Klangen Frauenschritte hinter Häuserbogen,
Folgtest du durch Gassen hingezogen
Feilen Blicken und geschminkten Wangen nach,
Hörtest in den Lüften Engelschöre musizieren,
Spürtest Glück, dich zu zerstören, zu verlieren,...

Im Dämmer glommen die gemalten Wände.
Ich sah dich an vom großen Schweigen trunken:
Und bebend fühlt ich deine weichen Hände
und stammelnd sind wir uns ans Herz gesunken.

Wie Kinder die in weißen Frühlingskleidern
hinlaufen...

(Nach Henri de Régnier)

Der lange Tag erlosch im gelben Leuchten
des Monds der weich sich zwischen Pappeln hebt
indes der Hauch des Weihers der im feuchten
Schilfröhricht schläft duftend im Dämmer schwebt.

Ahnten wir...

Du über deren Lippen leis in linden
Frühsommernächten trunkne Worte schweben:
Nun will ich deinen jungen Leib umwinden
und deiner Seele süße Last entbinden
und aller Träume wundervolles Weben

in Märchenaugen rätselhaft...